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Die Coaching-Gesellschaft

Gute Gründe für eine Steuerradausrichtung

Die Soziologie sucht Antworten über die Funktion unserer Gesellschaft. In dieser Flaschenpost gehen wir auf soziologische Detektivreise und beantworten die folgenden Fragen:

In welcher Gesellschaft macht Coaching Sinn? Ist Coaching die notwendige Antwort auf gesellschaftliche Themen unserer Zeit? Welche Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen lassen sich hier finden?

Funktion analytischer Konzepte

Um eine Gesellschaft zu erfassen, braucht es Klarheit über die Fragen, mit denen sie konfrontiert ist. Analytische Konzepte bieten ein Angebot möglichst viele Fragen und Antworten abzubilden. Wie können wir uns einen Überblick machen über aktuelle Themen wie die Digitalisierung, die Globalisierung, die Finanzialisierung durch den Finanzmarkt, ökonomische Bedingungen von Postwachstum, zunehmende Komplexität durch immense Wissensproduktion und den Möglichkeiten neuer Kommunikationsmedien?

Eine Gesellschaftstheorie gibt auf einen Blick Antworten über aktuelle Eigenschaften und Themen. Um hier konkret das Feld des Coachings besser zu erfassen, ist es spannend zu schauen, welche Konzepte es hierfür gibt.

Eigenarten unserer Gesellschaft

Für die Analyse der westlichen Industrienationen arbeiten wir dieses Mal mit dem Konzept der Regulationstheorie. Sie unterscheidet den Bereich des Ökonomischen in Produktions- und Konsumstruktur und den Bereich der Gesellschaft als Reaktion und Regulation auf ökonomische Logiken.[1]

Wir wollen dieses Konzept hier zum Erklären des Coachings verwenden und können damit folgende Eigenschaften benennen: Seit den 1970er Jahren lässt sich ein stagnierendes Wirtschaftswachstum, die Entkopplung vom Goldstandard, ein wachsender Einfluss des Finanzmarktes und eine zunehmende Entstandardisierung von Arbeitsverhältnissen erkennen. [2]

Damit zusammen hängen wiederum spezifische Fragen für Formen des Lebensstils, Biographien, Bildungswege, Familienpläne, Lösungen für die Work-Life-Balance, politische Regulationsformen und künstlerische Reflexion. Die Lebensläufe sind mit einer zunehmenden Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, einer stärkeren Individualisierung und Verunsicherung unterworfen. Dies gilt übergreifend für alle Mitglieder der Gesellschaft und ist nicht nur beispielsweise für Randgruppen der Fall.[3][4]

Das Modell, in dem man früher (meist der Herr) über 40 Jahre verschiedenen Stufen in einem Betrieb durchlaufen hat, mit einer 40 Stunden Woche abends (meist von einer Dame) versorgt wurde, Tarifverhandlungen unterstützte und seine Steuern und Hauskredite für die Familie abzahlte, wird zunehmend abgelöst.[5]

Diese Unterscheidung von ökonomischem und zivilem Feld ist eine Einladung, um zu verstehen was sich an den Rahmenbedingungen unseres Lebens ändert. Es bietet gute Gründe, warum Coaching als Berufsfeld auf einmal so attraktiv ist.

Coaching-Thema: Steuerrad ausrichten

Eine Gesellschaft die als autoritäres Herrschaftsverhältnis organisiert ist und sich als klares Bild zeigt, macht eine eindeutige Zustimmung oder Abneigung einfach. Gemeinsame Feindbilder stärken die Klarheit in Denken und Tat.[6] Im Zeitalter der Digitalisierung, Informations- und Wissensgesellschaft entsteht eine neue Herausforderung für den Wunsch nach Orientierung, Klarheit, Ausrichtung und Sicherheit. Mit dem Anstieg einer zunehmenden Einfachheit Wissen zu produzieren, veröffentlichen und abzurufen, besteht eine neue Konfrontation für jedes System, das Entscheidungen treffen will.[7] Da der globale Austausch durch neue Kommunikationswege so einfach geworden ist, ist eine Festlegung eines Wissensstandes kaum möglich. Ständig erscheinen neue Informationen, Akteure und teilen sich auch mit.

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund bekommt nun die Arbeit eines Coaches eine klare Funktion. Die idealtypische Biographie ist voller Fragen, die sich durch die Vielzahl an Möglichkeiten überhaupt erst stellen: Welche Ausbildung? Welches Umfeld? Welche Region? Ausland? Wenn ja, welches Land? Welches Praktikum? Partnerschaft ja/nein? Wenn ja, wie? Welcher Job? Freiberuflich oder angestellt? Wo und wie leben? Wo sind die Kinder am besten versorgt für das was auf sie zukommt? Welcher Kindergarten? Welche Schule? Usw. [8]

Nach dem Schulabschluss eine berufliche Entscheidung zu treffen kann zur Krise werden. Die Komplexität, die die jungen Menschen vor Entscheidungen im Blick haben, ist immens. Reif für die Klinik? Zeit für ein Gespräch beim Therapeuten? – Es handelt sich nicht um eine Erkrankung, sondern vielmehr um eine akute gesellschaftliche und damit überpersönliche Struktur. Durch die Bedingung zunehmender Komplexität entstehen viele Fragen, die sich noch vor 50 Jahren niemand stellte.

Luhmann löst die Komplexität auf durch die Unterscheidung. Sobald eine Klarheit über Entitäten vorhanden ist, lassen sich Prioritäten setzen und Entscheidungen treffen. Und ebendieser Prozess wird von Coaches begleitet. Um in dieser Vielzahl individuellen Entscheidungssituationen, die die idealtypische Biographie an uns heranträgt, nicht den Kopf zu verlieren ist Coaching attraktiv geworden.

Vom Drama zum Abenteuer

Coaches mit soziologischem Mind-Set kennen den Geschmack dieser Strukturen, können ihn spiegeln und benennen. Dieses Wissen schafft ein selbstverständliches Verständnis, ein weiter Überblick entsteht, persönliche Dramen lösen sich auf und der Wunsch nach Klarheit kann wachsen und spielerischen Ausdruck finden. Mögen die Abenteuer beginnen!

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Endnoten:

[1] Zum Thema Finanzmarktkapitalismus im theoretischen Feld der Regulationstheorie vgl. Hirsch/Roth 1986, vgl. Windolf 2005, vgl. Dörre/Brinkmann 2005.

[2] Vgl. Brinkmann 2011, vgl. Brinkmann/Langhoff 2010: 91, vgl. Keller/Seifert 2006, vgl. Mückenberger 1989, vgl. Hans Böckler Stiftung 2014.

[3] „… ein historisch spezifischer ‚Individualisierungsschub‘, in dessen Verlauf auf dem Hintergrund eines relativ hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten durch die Erweiterung von Bildungschancen, durch Mobilitätsprozesse, Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen, Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und vielen anderen mehr, die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen herauslöst und auf sich selbst und ihr individuelles ‚(Arbeitsmarkt-)‘Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen wurden und werden (Beck 1983: 41).

[4] Castel (2009).

[5] Themen: Normalarbeitsverhältnis, männliche Ernährer-Rolle, weibliche Organisation von Reproduktionsarbeit.

[6] Zu Feindbildern im Kontext der Friedensforschung, vgl. Senghaas 1970.

[7] Zum Ansatz der Systemtheorie, vgl. Luhmann (1987).

[8] Verweis auf szenische Darstellung durch Julia Weitzel (2015).

Für Neugierige zum Nachlesen und Stöbern:

Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Otto Schwartz, S. 35-74.

Boltanski, Luc/Chiapello, Éve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz.

Brinkmann, Ulrich (2011): Die unsichtbare Faust des Marktes. Betriebliche Kontrolle und Koordination im Finanzmarktkapitalismus, Berlin.

Brinkmann, Ulrich/Langhoff, Thomas (2010): Arbeits- und Gesundheitsschutz im Finanzmarktkapitalismus. In: IG Metall Vorstand: Beiträge zur Arbeitspolitik und Arbeitsforschung. Handlungsfelder, Forschungsstände, Aufgaben. Frankfurt.

Castel, Robert (2009): Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit. In: Castel, Robert /

Dörre, Klaus (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. / New York: Campus Verlag, S. 21-34.

Dörre, Klaus/Brinkmann, Ulrich (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells? In: Windolf, Paul (Hrsg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft Nr. 45. Wiesbaden: 85–116.

Friebe, Holm /Lobo, Sascha (2006): Wir nennen es Arbeit: Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Henye: München.

Hans Böckler Stiftung (Hrsg.) (2014): Atypisch ist fast normal. Minijobs und Co. Jeder zweite Job ist kein Normalarbeitsverhältnis. In: Böckler Impuls 14/2014. Düsseldorf.

Hirsch, Joachim/Roth, Roland (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus. Hamburg: VSA Verlag.

Keller, Berndt/Seifert, Helmut, (2006): Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Flexibilität, soziale Sicherheit und Prekarität. In: WSI-Mitteilungen 59/5, S. 235-240.

Kopf&Stift (2013): Die Systemtheorie nach Luhmann, unter URL:

https://kopfundstift.de/portfolio/einfuhrung-in-luhmanns-systemtheorie/ (Stand: 2013, Abruf: 26.02.2018)

Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Reihe: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Suhrkamp: Berlin.

Mückenberger, Ulrich (1989): Der Wandel des Normalarbeitsverhältnisses unter Bedingungen einer „Krise der Normalität“. In: Gewerkschaftliche Monatshefte (4). S.211-S.223.

Senghaas, Dieter (Hrsg.) (1970): Friedensforschung und Gesellschaftskritik, München.

Verweis auf szenische Darstellung durch Julia Weitzel. Unter URL:

http://www.julia-weitzel.de/soziologische-szenen-soziale-beschleunigung/ (Stand: 2015, Abruf 26.02.2018)

Windolf, Paul (Hrsg.) (2005): Finanzmarktkapitalismus. Analyse zum Wandel von Produktionsregimen. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.


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