Angewandte Soziologie: Das Graves-Model
In der vorherigen Flaschenpost haben wir die Wertigkeit und Funktionalität von Persönlichkeits- und Eignungstests diskutiert. Ein Ergebnis der Diskussion ist, dass die Anwendung stets mit einer entwicklungsorientierten und integrierenden Haltung erfolgt. In diesem Sinne soll auch das folgende Modell verstanden werden. Das Gravesmodel, beinhaltet sowohl eine Diagnostik der Persönlichkeit, als auch die Möglichkeit einer Analyse von Motivationsfaktoren. Dementsprechend kann Graves als Erkenntnismodell bewertet werden und als eine Art Veränderungstool funktionieren.
Erst mal von vorne und back to roots, wie war das noch mit den Gesellschaftstypen…
In der Soziologie gibt es verschiedenen Theorien, die die Entstehung von Gesellschaft diskutieren. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Es hat sich ergeben, dass von verschiedenen Zeitaltern/ Epochen gesprochen wird. Gegenwärtig leben wir laut Aussagen einiger Theoretiker in der Postdemokratie, andere sprechen von der Postindustrialisierung, für beide Begrifflichkeiten gibt es spannende Argumente. Eine wesentliche Rolle für die Entwicklung von gesellschaftlichen Epochen spielt die Differenzierung. Differenzierung ermöglicht Vielfältigkeit und Komplexität. So ist beispielsweise die archaische Gesellschaft geprägt von dem Alltag eines Stammes, der immer weiter zieht und nicht an einem Ort bleibt. Die Motivation für jagen, sammeln und in der Gruppe zu sein, ist rein existentiell. Folgen wir der Geschichte, wissen wir, dass die Stammesgruppen sesshaft werden und Ackerbau betreiben. Die Gruppenmitglieder waren in einem Verband und in einer gewissen Form voneinander abhängig. In dieser Situation ist die Handlungsmotivation an ein Kollektiv gebunden. Wie wir wissen entwickeln sich später die Hochkulturen und bis heute differenzieren sich in der Gesellschaft Rollen und Funktionen, Vielfältigkeit und Komplexität, es gibt Hierarchien, Berufszweige, und Aufgabenverteilung. Diese Hintergründe spielen für das Graves Modell eine wichtige Rolle, denn Graves sieht eine Abhängigkeit zwischen der Motivation des Individuums und gesellschaftlicher Umweltfaktoren.
Das Graves-Model – Eine Erklärung für die „Macher“
Das Graves Modell basiert auf der Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen der Entstehung von Wertesystemen und äußeren Existenzbedingungen gibt. Gesetzte sind die äußeren Möglichkeiten, wer in einer Gesellschaft lebt und hungert, kann sich nicht um andere kümmern. Ist dieses Bedürfnis gedeckt, ist es möglich sein Wertsystem zu erweitern und „andere“ in den Mittelpunkt der Motivation zu stellen. Clare Graves, ein Psychologe der 60er Jahre beschreibt sein Model als eine „Bio-Psycho-Soziale-Doppel-Helix-Modell“[1]. Ältere Verhaltenssysteme von einer niederern Ordnung verändern sich dabei je nach dem Maß der existentiellen Probleme des Einzelnen. Dabei spricht Graves von Stufen, die erreicht werden und zu einer Veränderung der Bewertung eigener Lebensgewohnheiten beitragen. Das Modell skizziert damit auch eine Abhängigkeit der Wirksamkeit verschiedener Reize (wie zum Beispiel Entlohnungssysteme, Managementprinzipien u.ä.) und der passenden Stufe eines Individuums. Neue Anforderungen erfordern neue Lösungsstrategien, das „was“ darf aber nicht mit dem „wie“ verwechselt werden. Das Gavesmodel beschreibt keine Tatsachen, es bezieht sich darauf Ursachen zu erklären.
Die konkrete Anwendung des Gravesmodel erfolgt anhand eines Fragebogens, mit dem Zweck, Fragen jeder Stufe zustimmend oder ablehnend beantworten zu können. Graves sieht momentan acht verschiedene Stufen, die in Anlehnung an die Entwicklung der Gesellschaftsformen kategorisiert werden. Durch die Farbgebung und einigen Schlagworten werden die Stufen deskriptiv beschrieben (siehe dazu Fußnote 1). Das Ergebnis des Fragebogens ist eine Beschreibung der anteiligen Aufsplitterung jeder Stufe einer Person. Vorstellbar ist zum Beispiel das Ergebnis eines jungen Arbeitnehmers, nach Zeiten der Ausbildung und materieller Abhängigkeit ist der Lohn ein Zeichen für die freie Bestimmung eigener Ziele. Dies könnte sich in erhöhten Anteilswerte insbesondere der orangenen Stufe wiederspiegeln. Die Entlohnung wird anfänglich eine wichtige Rolle spielen, nach gewisser Zeit könnten jedoch zwischenmenschliche Werte eine erhöhte Gewichtung bekommen und sich die anteiligen Werte in der grünen Stufe erhöhen.
..und wie kann das angewendet werden?
Die Einordnung der persönlichen Anteile der Stufen bringt Erkenntnis. Bin ich bei mir, kämpfe ich gerade für mich oder bin ich mehr bei anderen und habe eine ganzheitliche Sichtweise, die die „Anderen“ miteinschließt. Wer wissend ist kann konfrontieren, kann handeln, kann reflektieren. In diesen Zusammenhang ermöglicht Erkenntnis eine Analyse der Motivation. Wer weiß was er tut und warum er es tut wird in seinem Handeln erfolgreicher sein (Hier greifen verschiedene Modelle die Theorie der inneren Haltung auf). Im Training bietet diese Methode die Möglichkeit Verständnis für sich und für andere zubekommen. Außerdem bleibt die spannende Anlehnung an gesellschaftliche Veränderung und inwiefern wir diese unterstützen oder auch unterbinden möchten. In welcher Gesellschaftsform möchtest DU leben?
Put it all in a seashell
Motivationstheorien sind eine Möglichkeit durch Erkenntnis die eigenen Handlungsoptionen zu erweitern. Angelehnt an die Erklärung gesellschaftlicher Ausdifferenzierung bietet die Erklärung von Graves eine spannende Einordnung der eigenen Position in einem dynamischen Model basierend auf Werten und Berücksichtigung der Existenzbedingung. Wie die Anwendung im Training aussieht, bleibt dem Trainer überlassen, wichtig ist dabei immer den Backround der Teilnehmer zu berücksichtigen, insbesondere ihre Flexibilität im Umgang mit den Ergebnissen.
Zum Nachlesen:
[1] https://www.landsiedel-seminare.de/downloads/graves-e-book-stephan-landsiedel.pdf
[2] Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. edition suhrkamp: Berlin.
[3] Simmel, Georg (1890): Über sociale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen Erstdruck Duncker und Humblot, Leipzig 1890. Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors. Hrsg. Guth, Karl-Maria (2015): Berlin.